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„Dschinns“ von Fatma Aydemirs

Lesetipp Oktober 2022:

„Dschinns“, Fatma Aydemirs großer Familienroman – Auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2022

Mit diesem Buch ist der jungen Autorin ein großer Wurf gelungen. „Dschinns“ ist fesselnd und sehr berührend. Es bietet tiefe Einblicke in die Gefühlswelt der Menschen, die als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland kamen und beleuchtet, wie sich deren Kinder und Enkel in der Welt zwischen zwei Heimaten zurechtfinden müssen.

Dreißig Jahre hat Hüseyin, Ehemann und Vater von vier Kindern, in Deutschland geschuftet. Nun erfüllt er sich endlich seinen geheimen Traum: eine Eigentumswohnung in Istanbul. Doch am Tag des Einzugs stirbt er dort an einem Herzinfarkt. Zur Beerdigung muss völlig überstürzt und schockiert seine Familie aus Deutschland anreisen.
Fatma Aydemirs großer Gesellschaftsroman besticht besonders durch seinen Aufbau. Er besteht aus sechs großen Kapiteln, in deren Fokus jeweils eins der sechs Familienmitglieder steht. Die sind eigentlich grundverschiedene Menschen, aber alle sechs haben sie ihr eigenes Gepäck: Geheimnisse, Wünsche, Wunden. Und alle haben sie zu kämpfen mit den großen Fragen von Herkunft, Zugehörigkeit und Zukunft. Wie verwoben die Schicksale miteinander sind, offenbart sich am Ende in kargen Worten, die den Leser doch mitten ins Herz treffen.

Was die Personen von Anfang an vereint, ist das Gefühl, dass sie in Hüseyins Wohnung beobachtet werden. Etwa von Dschinns? Von Dämonen, die den Menschen Angst einjagen, denn sie stehen für das Dunkle, Ungewisse, Nicht-Greifbare. Irritierend für den Leser wirkt die „du-Form“ im ersten und letzten Kapitel über den Familienvater und die Mutter. Sind es etwa die Dämonen, die diese beiden Personen ansprechen? Voller Wucht ergründet „Dschinns“ das Gebilde dieser türkischen oder eher kurdischen oder doch schon deutschen Familie.

Die Autorin Fatma Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren. Sie lebt in Berlin und ist Redakteurin bei der taz. 2017 erschien ihr Debütroman „Ellbogen“, für den sie zwei Preise erhielt. Ihr zweiter Roman „Dschinns“ wurde mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichnet und ist eines von den sechs Büchern auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2022.

„Dschinns“ (Hanser 2022) ist im örtlichen Buchhandel erhältlich oder in der Stadtbibliothek Engen ausleihbar.

„Aufbrechen“ von Tsitsi Dangarembga

Lesetipp September 2022:

Die Autorin aus Simbabwe erhielt im Oktober 2021 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für ihre Arbeit als Filmemacherin und Schriftstellerin. Dangarembga lebt heute mit ihrem deutschen Mann in Berlin und in Harare. In ihrem Heimatland war sie erst kürzlich angeklagt, denn sie hatte zu einer Anti-Korruptions-Demonstration aufgerufen.

Außerdem kämpft sie mit friedlichen Mitteln für Frauen- und Freiheitsrechte und für politische Veränderungen in Simbabwe. Sie setzt sich intensiv für die Förderung Filmschaffender afrikanischer Frauen ein.

Ihr Roman „Aufbrechen“ schildert den harten Kampf des Mädchens Tambu um höhere Bildung und wie sie sich allmählich aus dem Stammes- und Dorfleben löst. Allerdings zum Preis der Entfremdung von ihren Wurzeln.

Der Roman ist das Porträt einer afrikanischen Gesellschaft, die von Kolonialismus geprägt und vom Patriarchat dominiert ist, in der jedoch die jüngeren Frauen für Selbstbestimmung kämpfen. Dieser Weg geht nur über Bildung.

Es gibt kaum ein Buch, das so einen guten Einblick in Kultur und Denkweisen des ostafrikanischen Landes Simbabwe (früher Rhodesien) gibt. Das Land wurde fast 40 Jahre lang von dem Diktator Mugabe beherrscht und gnadenlos ausgebeutet. Die Lebensumstände sind auch heute noch äußerst schwierig.

Die BBC hat „Aufbrechen“ in die Liste der 100 wichtigsten Bücher aufgenommen, die die Welt geprägt haben. Das Buch ist ausleihbar in der Stadtbibliothek Engen.

„Der Traumpalast“ von Peter Prange

Lesetipp Juli 2022; Peter Prange: „Der Traumpalast – Bd. 1: Im Bann der Bilder“   (Scherz Verlag 2021)

Die Ufa, die Universum Film AG, ist ein Mythos. Sie ist Deutschlands Antwort auf Hollywood. Und das schon kurz nach dem 1. Weltkrieg, also noch zu Stummfilmzeiten. Wer sich für Filmgeschichte und die vermeintlich Goldenen 20er Jahre interessiert, dem sei der dicke Schmöker „Der Traumpalast“ von Peter Prange empfohlen. Der Autor verpackt beides in die spannende und berührende Liebesgeschichte von Tino und Rachel.

Mit einer Nelke im Knopfloch als Glücksbringer flaniert Konstantin Reichenbach, genannt Tino und Sohn einer reichen Bankiersfamilie, 1917 durch Berlin, entdeckt seine Liebe zum Film und zur eigenwilligen Rahel Reichenberg.

Die Menschen strömen in Massen in die Kintopps, warum also nicht in eine Filmgesellschaft einsteigen? Tino hat die nötigen Beziehungen und einen genialen Freund, Erich Pommer, der als Produzent von Filmen wie „Dr. Mabuse“, „Metropolis“ und „Der blaue Engel“ (Regie Fritz Lang) in die Filmgeschichte eingehen wird. Durch Menschen wie sie entwickelt sich der Film zur bedeutendsten Kunstform des 20. Jahrhunderts und aus der Ufa, eigentlich noch während des Krieges als Propaganda-Maschine des Militärs gegründet, wird der große Konkurrent von Hollywood. Die „Flimmeritis“ wird für Millionen zur Droge. Und Kokain zur Modedroge der Reichen.

Aber die frühen 20er Jahre sind keineswegs golden, herrscht doch eine gigantische Inflation und die junge Weimarer Republik wird von politischen Wirren, Morden und Umsturzplänen bedroht. Trotz aller Widrigkeiten treibt Tino den kometenhaften Aufstieg der Ufa voran. Aber schafft er es wirklich, die freiheitsliebende Rahel, die nichts anderes als Journalistin werden will, für sich zu gewinnen? Und wie wird seine Familie, besonders seine antisemitische Mutter auf seine Beziehung zu dem jüdischen Mädchen reagieren?

Den Leser wird vielleicht irritieren, dass Prange an manchen Stellen die in unseren Ohren krass klingende Sprache der damaligen Zeit verwendet. Doch so erreicht der Autor Authentizität, und die heutigen Leser bekommen einen guten Eindruck vom Leben vor 100 Jahren.

Das Buchjournal urteilt: „Mühelos findet Prange die Balance zwischen historischer Genauigkeit und dramaturgischer Finesse … es entsteht das faszinierende Panorama eines glitzernden Jahrzehnts, in dem die Weichen für das kommende Unheil gestellt werden.“

Bestseller-Autor Peter Prange erzählt in fast allen seinen Romanen deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert. Dabei verknüpft er meisterhaft persönliche Schicksale mit Welt- und Kulturgeschichte. Seine Bücher haben eine Gesamtauflage von mehr als 3 Millionen Exemplaren erreicht. Auch die Verfilmungen begeistern ein Millionenpublikum. Prange lebt in Tübingen und war schon zweimal zu Gast in der Stadtbibliothek Engen.

Wer von der Lektüre süchtig geworden ist: Im Herbst erscheint der 2. Band „Traumpalast – Bilder von Liebe und Macht“. Dann ist der 1.Band auch als Taschenbuch erhältlich. Bd.1 „Im Bann der Bilder“ ist in der Bibliothek ausleihbar oder im örtlichen Buchhandel erhältlich, 800 Seiten, 25 €.

Anmerkung: Es lohnt sich auch hier, die „Notwendige Nachbemerkung“ zuerst zu lesen.