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„Der Afrik“

Lesetipp Februar 2024: „Der Afrik“ von Sven Recker

Eines der ungewöhnlichsten Bücher der letzten Monate ist sicher der schmale Roman „Der Afrik“ von Sven Recker.

Ungewöhnlich das Thema: Es geht um Bewohner Südbadens, die Mitte des 19. Jahrhunderts zur Auswanderung gezwungen wurden und denen die Rückkehr verweigert wurde.

Ungewöhnlich auch die Form des Romans, weil viel von der Geschichte des Franz Xaver Luhr in der ‚Du‘-Form und im Präsens erzählt wird. Das wirkt nur auf den ersten paar Seiten befremdlich, dann nehmen Luhrs dunkle Gefühle, Alpträume und wortkargen Gedanken den Leser mit beklemmender Eindringlichkeit gefangen.

Ungewöhnlich, ja schockierend ist die Geschichte der kinderreichen Familie Luhr. Sie lebten in Pfaffenweiler, einem Weindorf in der Nähe von Freiburg. Im Jahr 1853 wurden sie von der Gemeinde zusammen mit anderen armen Familien zur Auswanderung nach Afrika gezwungen, und zwar in die damals französische Kolonie Algerien. Die Reise der Dorfarmen bezahlte die Gemeinde durch Holzverkauf. Dazu wurde ein Waldstück abgeholzt. Auf der freien Fläche entstand ein Weinberg, genannt ‚Afrika‘. Den Auswanderern wurde ein gutes Leben auf fruchtbaren Feldern versprochen, doch es erwartete sie noch schlimmere Not als in der Heimat. Ihre Bitten, zurückkehren zu dürfen, wurden vom Gemeinderat strikt abgelehnt. Nur einer von 132 Auswanderern schaffte es zurück und der wurde fortan von den Dorfbewohnern ‚Afrik‘ genannt.

Doch er war seltsam geworden, ein wortkarger Außenseiter, der in einer primitiven Hütte nahe des Weinbergs hausen musste. Eines Abends aber saß vor seiner Hütte ein fremder Junge. Er redete nicht bis auf die französischen Worte „J’ai faim“ (Ich habe Hunger.). Welche Beziehung entwickelt sich zwischen den beiden und was wird aus Luhrs Plan, den ganzen Weinberg, genannt „Afrika“, in die Luft zu sprengen?

Sven Recker, geb. 1973 in Bühl/Baden, lebt in Berlin. ‚Afrik‘ ist sein dritter Roman.

Die Idee zu diesem Roman basiert auf zwei Quellen, die im Buch genannt werden. Dort auch zwei Fotos, Luhr auf einem Gruppenbild aus Pfaffenweiler (aufgenommen vor 1907) und ein Foto vom Afrika-Denkmal beim Weinberg ‚Afrika‘.

Tobias Rüther im WDR: „Dieses Buch hat mich umgehauen.“

Sven Recker, „Der Afrik“, Edition Nautilus 2023, 159 Seiten – ausleihbar in der Stadtbibliothek Engen

„Die Verräter“

Lesetipp Herbst 2023: „Die Verräter“ von Artur Weigandt

„Die Heimat ist nicht mehr als eine Erinnerung“ schreibt Weigandt in seinem „journalistischen Heimatroman“ über seine eigene Herkunft. Geboren wurde der junge Autor 1994 als Nachkomme von Wolgadeutschen in Uspenka, einem kleinen Plandorf in der Steppe Kasachstans. Gegründet war dieses Dorf schon im Jahr 1911 von ukrainischen Deportierten. Der letzte Zar hatte ukrainische Bauern, Beamte, Handwerker all ihrer Besitztümer beraubt und sie in die unwirtliche Steppe von Kasachstan verfrachtet. Danach die blutige russische Revolution. Das Leben in Uspenka steht beispielhaft für das Leben in der UdSSR. Heute oft verklärt, drohten doch für nicht wenige Willkür, Repressionen, Verhaftung und Deportation.

Mit dem Zerfall der Sowjetunion verwaiste Uspenka. Viele Menschen zogen weg und begannen ein Leben in der Fremde. Wurden sie dadurch zu „Verrätern“ ihrer Heimat? Doch in ihrer Erinnerung lebt das Dorf weiter. Artur Weigandt spricht mit diesen Menschen und ergründet die Spuren, die Flucht und Vertreibung in seiner eigenen Familie hinterlassen haben. Am Ende muss er erkennen, dass der russische Angriff auf die Ukraine seine eigene Identität infrage stellt. Besonders schmerzt ihn, dass Teile seiner Familie, die in Russland geblieben sind, Berichte über die Schrecken des Krieges in der Ukraine als Fake-News, als reine Erfindungen abtun.

Der junge Autor überschreibt sein informatives und doch sehr berührendes Buch „Für die Heimatlosen“.  Hanser Verlag 2023

„Ein Haus für viele Sommer“

Lesetipp Januar 2023: „Ein Haus für viele Sommer“ von Axel Hacke

Der Schriftsteller und Kolumnist des Magazins der Süddeutschen Zeitung hat seinem Lesepublikum ein wunderschönes Buch beschert, das große Lust aufs Reisen macht. Schon in den ersten Zeilen entführt er uns in den Süden, in eine Cantina, wo die Vespa geparkt und der Wein gelagert wird, kurz: in ein Dorf auf der italienischen Insel Elba. Dort hat die Familie des Erzählers vor vielen Jahren einen uralten Torre (Wohnturm) geerbt, sehr malerisch, aber mit andauernder Renovierungsarbeit verbunden. Schreibt der Autor von seiner eigenen Familie? „Axel, ciao, come stai?“ Axel, wie geht’s, ruft ihm ein Nachbar in höchster Freude entgegen. Doch Vorsicht: In seinen Nachbemerkungen ernüchtert Axel Hacke die Leser. Die meisten der Geschichten in diesem Buch hätten so, wie sie erzählt werden, nicht stattgefunden. Auch die meisten Menschen im Buch seien erfunden, doch er habe Vorbilder gehabt, die ihm gute Nachbarn und Freunde geworden seien. In dem Dorf Capoliveri auf Elba scheint die Zeit langsamer zu vergehen, zumindest in den langen Sommern, die der Erzähler seit Jahrzehnten dort verbringt. Er schildert die kleinen Begebenheiten in den Gassen, auf der Piazza, am Strand und auf den Hügeln. Dabei zieht der Duft der südländischen Pflanzen, des Weins und des Olivenöls in unsere Nase und uns läuft das Wasser im Mund zusammen, wenn wir von spaghetti con aglio, olio e peperoncino lesen. Wir hören mal von kunstsinnigen, mal von schrulligen, gar grantigen, aber doch immer liebenswerten Inselbewohnern. Wir begegnen Lorenzo, dem Schreiner, der vom Bett aus ein Wildschwein erlegen konnte, und lernen den alten Ennio, den besten Mechaniker für jeden Cinquecento kennen, der sich trotz Leibesfülle und zwei Meter Körpergröße in seinen quietschgelben Fiat quetscht. Steht die Zeit auf der Insel still? Sicher nicht, deshalb ist es vielleicht besser, sich auf eine literarische Reise einzulassen. Und doch bekommt man bei der Lektüre große Lust, Elba zu besuchen – doch vermutlich ist man nur einer von tausenden Touristen, die doch nur Fremde auf der Insel bleiben.

Der Literaturkritiker Uwe Wittstock urteilt: „Vielleicht ist Axel Hacke einer der wenigen echten Volksschriftsteller, die unsere Literatur zurzeit hat. Seine Bücher werden nicht nur gelesen, sondern heftig geliebt.“
„Ein Haus für viele Sommer“, erschienen im Kunstmann Verlag 2022, ist ausleihbar in der Stadtbibliothek Engen oder zu kaufen in der Buchhandlung am Markt. Bei Goldmann auch als Taschenbuch erhältlich (12 €).