Radio Sarajewo

2 Lesetipps September 2024

Tijan Sila: „Radio Sarajevo“ und Stephan Orth: “Couchsurfing in der Ukraine”

„Alles, was Sie gelesen haben, ist wahr, ist wirklich passiert.“ Der Autor Tijan Sila schreibt, er habe am Buch gearbeitet wie der Regisseur eines Dokumentarfilms, der das Geschehen stark raffen musste. So entstand ein Buch von knapp 170 Seiten, das doch alles enthält, was zu sagen ist über das Aufwachsen von Kindern im Krieg. Geboren 1981 in Sarajevo in Bosnien, wächst Sila in einer Familie und in einem Umfeld auf, wo es eigentlich keine Rolle spielte, welcher Religion und welcher Ethnie man angehörte. Und doch spüren alle, dass eine giftige Atmosphäre um sich greift. An den Häusern erscheinen Graffiti, die den Muslimen den Tod wünschen, die Ausweitung Serbiens bis nach Tokio fordern und behaupten, Bosnien habe nie existiert. Woher kommen solche Sprüche? Wer verfolgt welche Interessen? Im Frühjahr 1992 fallen Bomben auf die Stadt, obwohl der Vater seinem Sohn doch versprochen hat, die Menschen wollten keinen Krieg, sondern Frieden. So verliert der Junge das Vertrauen in die Autorität des Vaters. Nach Monaten in Kellern und zwischen Trümmern setzt Gewöhnung ein, doch der Elfjährige hat für Jahre das Weinen verlernt. Die Bombardements und die Gewalt haben seine Kindheit beendet. Weil die Schulen monatelang geschlossen sind, treffen sich die Halbwüchsigen im Freien trotz der Gefahr, beschossen zu werden. Die Freundschaften untereinander geben ihnen Halt. Den Krieg erklären? „Jeder kämpfte gegen jeden.“ Und doch gelingt es Sila, in wenigen Worten die verworrene Lage und Geschichte Bosniens zu umreißen. Gewalt aber beherrscht das tägliche Leben, nicht nur auf der Straße, sondern auch bei den martialischen Erziehungsmethoden in Schulen und Familien. Klebstoff schnüffeln wird populär unter den Jugendlichen. Es ist die Droge der Ärmsten. Sie lässt vergessen, schädigt aber die Gehirne der Kinder ganz massiv. Der Schwarzmarkt blüht. Was für ein Glück, ein kleines rotes Kofferradio zu ergattern, aus dem Rock-Musik schallt. 1994 entschließen sich Silas Eltern, das Land zu verlassen, wie Tausende vor ihnen. Doch es bringt ihnen kein Glück. Es gelingt ihnen nicht, in Deutschland Fuß zu fassen. Die große Scham darüber hindert sie daran, wieder in die alte Heimat zurückzukehren.

Trotz der dramatischen und eigentlich traurigen Ereignisse gelingt es dem Autor, durch die Schilderung von skurrilen und witzigen Szenen den Leser zu fesseln. Die Handlung wird aus dem Blickwinkel des Jungen erzählt, der mit seinen Freunden Abenteuerliches erlebt und versucht, irgendwie klar zu kommen und die Schrecken des Krieges auszublenden.

Dieses Buch ist ein Glücksfall, prägnant geschrieben, berührend, unbedingt lesenswert!
Tijan Sila, geb. 1981, kam 1994 als Kriegsflüchtling nach Deutschland, studierte Sprachen in Heidelberg, ist Berufschullehrer in Kaiserslautern. Er veröffentlichte ab 2017 Romane. Im Sommer 2024 gewann er den überaus renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis für einen noch unveröffentlichten Text.

Tijan Sila, „Radio Sarajevo“ (8.Auflage 2024), geb. bei Hanser, als TB bei Nagel & Kimche (173 Seiten, 14 €) im örtlichen Buchhandel, auch ausleihbar in der Stadtbibliothek Engen

Ebenso uneingeschränkt lesenswert: Stephan Orth: „Couchsurfing in der Ukraine – Meine Reise durch ein Land im Krieg“. Orth, der schon zweimal in Engen zu Gast war, erkundet, wie der Alltag der Menschen in der Ukraine aussieht, was sie durchhalten lässt und was dieser Krieg eigentlich mit uns zu tun hat. Ein packender Bericht über das Leben im Ausnahmezustand!

Piper Verlag 2024 (255 S., 18 €), auch ausleihbar in der Stadtbibliothek Engen.

Sommerlesetipp 2024

Lesetipp Mai 2024: Dinçer Güçyeter: „Unser Deutschlandmärchen“

Bei der kommenden Fußball-Europameisterschaft hoffen viele Deutsche auf ein neuerliches „Deutschlandmärchen“ wie im Jahr 2006 bei der Weltmeisterschaft. Was aber, wenn der Buchtitel eines türkisch-stämmigen Autors unser Deutschlandmärchen heißt? Der Preisträger des Leipziger Buchpreises 2023 erzählt eine, seine (?) Familiengeschichte, besonders aus der Sicht der Frauen mehrerer nach Deutschland ausgewanderter Generationen und des Sohnes, der in Almanya geboren wurde. Und diese Geschichte verläuft alles andere als märchenhaft. Güçyeter erzählt vom Schicksal türkischer Griechen zu Anfang des 20. Jahrhunderts, von archaischer Verwurzelung in anatolischem Leben und von den großen Herausforderungen der Mutter, als Gastarbeiterin in Deutschland ein neues Leben zu beginnen. Erschütternd wirkt der bittere Satz von Fatma: „Wenn deine Wurzeln nicht derselben Erde angehören, bist du verdammt.“ Und im Epilog sagt sie: „Wir haben blind danach gestrebt, den Schmerz der Entwurzelung mit Eigentum, mit Geld zu heilen, vergebens.“ Perspektiven und die poetische Erzählweise der kurzen Kapitel sind einzigartig und fallen aus dem Rahmen eines „normalen“ Romans. Bebildert ist das Buch mit einigen berührenden privaten Schwarz-Weiß-Fotografien.

Heute ist der 1979 in Nettetal nahe der niederländischen Grenze geborene Autor ein engagierter Theatermacher, Lyriker, Herausgeber und Verleger. Als junger Mann einer türkischen Gastarbeiterfamilie machte er den Realschulabschluss an der Abendschule und absolvierte die Ausbildung zum Werkzeugmacher. Seinen Elif-Verlag, gegründet 2012, finanzierte er als Gabelstaplerfahrer in Teilzeit. Im Jahr 2022 wurde Güçyeter mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet und 2023 erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse für „Unser Deutschlandmärchen“. Nach all den überschwänglichen Kritiken wird das Buch ab November 2024 auch als Theaterstück zu sehen sein.

Dinçer Güçyeter, „Unser Deutschlandmärchen“, 2022 erschienen im Verlag mikrotext, ausleihbar in der Stadtbibliothek Engen

„Der Afrik“

Lesetipp Februar 2024: „Der Afrik“ von Sven Recker

Eines der ungewöhnlichsten Bücher der letzten Monate ist sicher der schmale Roman „Der Afrik“ von Sven Recker.

Ungewöhnlich das Thema: Es geht um Bewohner Südbadens, die Mitte des 19. Jahrhunderts zur Auswanderung gezwungen wurden und denen die Rückkehr verweigert wurde.

Ungewöhnlich auch die Form des Romans, weil viel von der Geschichte des Franz Xaver Luhr in der ‚Du‘-Form und im Präsens erzählt wird. Das wirkt nur auf den ersten paar Seiten befremdlich, dann nehmen Luhrs dunkle Gefühle, Alpträume und wortkargen Gedanken den Leser mit beklemmender Eindringlichkeit gefangen.

Ungewöhnlich, ja schockierend ist die Geschichte der kinderreichen Familie Luhr. Sie lebten in Pfaffenweiler, einem Weindorf in der Nähe von Freiburg. Im Jahr 1853 wurden sie von der Gemeinde zusammen mit anderen armen Familien zur Auswanderung nach Afrika gezwungen, und zwar in die damals französische Kolonie Algerien. Die Reise der Dorfarmen bezahlte die Gemeinde durch Holzverkauf. Dazu wurde ein Waldstück abgeholzt. Auf der freien Fläche entstand ein Weinberg, genannt ‚Afrika‘. Den Auswanderern wurde ein gutes Leben auf fruchtbaren Feldern versprochen, doch es erwartete sie noch schlimmere Not als in der Heimat. Ihre Bitten, zurückkehren zu dürfen, wurden vom Gemeinderat strikt abgelehnt. Nur einer von 132 Auswanderern schaffte es zurück und der wurde fortan von den Dorfbewohnern ‚Afrik‘ genannt.

Doch er war seltsam geworden, ein wortkarger Außenseiter, der in einer primitiven Hütte nahe des Weinbergs hausen musste. Eines Abends aber saß vor seiner Hütte ein fremder Junge. Er redete nicht bis auf die französischen Worte „J’ai faim“ (Ich habe Hunger.). Welche Beziehung entwickelt sich zwischen den beiden und was wird aus Luhrs Plan, den ganzen Weinberg, genannt „Afrika“, in die Luft zu sprengen?

Sven Recker, geb. 1973 in Bühl/Baden, lebt in Berlin. ‚Afrik‘ ist sein dritter Roman.

Die Idee zu diesem Roman basiert auf zwei Quellen, die im Buch genannt werden. Dort auch zwei Fotos, Luhr auf einem Gruppenbild aus Pfaffenweiler (aufgenommen vor 1907) und ein Foto vom Afrika-Denkmal beim Weinberg ‚Afrika‘.

Tobias Rüther im WDR: „Dieses Buch hat mich umgehauen.“

Sven Recker, „Der Afrik“, Edition Nautilus 2023, 159 Seiten – ausleihbar in der Stadtbibliothek Engen