Lesetipp Mai 2023:

„Ihr glücklichen Augen“ von Elke Heidenreich

Wer diese „kurzen Geschichten zu weiten Reisen“ liest, möchte am liebsten gleich losreisen zu den Orten, von denen die bekannte Kölner Autorin Elke Heidenreich erzählt: Danzig und Kairo, Shanghai und Oslo, Nagasaki und viele Orte mehr. Über Jahrzehnte hat sie Reiseeindrücke gesammelt und daraus eine Art Reiseführer verfasst, informativ, kritisch, berührend und manchmal auch lustig.

Elke Heidenreich, studierte Theaterwissenschaftlerin, ist in ihrem Leben viel gereist, teils beruflich für Opernproduktionen (Wagner in Shanghai!) oder als Autorin für Lesungen im Goethe-Institut. Aber sie reist auch privat und dann nicht so sehr als Touristin, sondern eher „einfach nur so, ohne große Erwartungen. Ins Unbekannte.“ So entstehen Geschichten von wunderbaren Entdeckungsreisen voller Überraschungen.

Da ihre große Liebe der Oper gilt, besucht sie wenn immer möglich, Opernhäuser und beschreibt die Atmosphäre so eindringlich, dass man als Leser das Gefühl hat, jetzt muss man sofort den Koffer packen und das Theater mit eigenen Augen erleben. Dann erfährt man, dass das Teatro Massimo von Palermo, das größte Opernhaus in Italien, von 1974 an 20 Jahre geschlossen war, weil mafiöse Strukturen die Sanierung hinauszögerten. Jahrelang kämpfte ein mutiger Bürgermeister für die Wiedereröffnung, ebenso wie er sich für die Rettung von Bootflüchtlingen einsetzte, ganz gegen die Linie der Regierung (und der Mafia!).

Doch man kann mit der Autorin auch riesige Albatrosse und putzige Gelbaugenpinguine in Neuseeland erleben oder den Markt von Marrakesch und das Haus von Yves Saint-Laurent und den traumhaften Park Jardin Majorelle, der den Modeschöpfer so sehr inspiriert hatte.

Auf Clare Island vor der Westküste Irlands (heute 162 menschliche Bewohner, 3000 Schafe) folgt sie den Spuren von Grace O’Malley, Piratin der Königin Elizabeth I.

Doch gleich zu Beginn des Buches nimmt Heidenreich die Leser*innen mit in die „Frauenbadi“, eröffnet 1837 (!) in der Limmat in Zürich, jetzt ein denkmalgeschütztes Jugendstilbauwerk. Noch heute kann man, nein frau dort ganz ungestört von männlichen Blicken schwimmen und eisgekühlte Drinks an der Bar schlürfen.

Erschrecken auf einer Lesereise im ziemlich zerstörten Beirut, früher dem „Paris des Nahen Ostens“: „Oh, wie schön, ihr seid Deutsche… Kommt herein, mein Haus ist euer Haus, Hitler war ein guter Mann!“ Doch nicht alle denken so. Als Schulkinder bei einer Lesung mit Heidenreich auf Französisch diskutieren, erfährt sie vom hohen Bildungsniveau der Libanesen trotz Bürgerkrieg, Chaos und Korruption.

So fasziniert jeder Text die Leser aufs Neue und weckt Fernweh mit diesen so unterhaltsamen Reisegeschichten einer Autorin, die immer neugierig auf Begegnungen mit fremden Menschen an fremden Orten ist.

Elke Heidenreich: „Ihr glücklichen Augen – Kurze Geschichten zu weiten Reisen“, Hanser Verlag 2022 – ausleihbar in der Stadtbibliothek Engen

„Dschinns“ von Fatma Aydemirs

Lesetipp Oktober 2022:

„Dschinns“, Fatma Aydemirs großer Familienroman – Auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2022

Mit diesem Buch ist der jungen Autorin ein großer Wurf gelungen. „Dschinns“ ist fesselnd und sehr berührend. Es bietet tiefe Einblicke in die Gefühlswelt der Menschen, die als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland kamen und beleuchtet, wie sich deren Kinder und Enkel in der Welt zwischen zwei Heimaten zurechtfinden müssen.

Dreißig Jahre hat Hüseyin, Ehemann und Vater von vier Kindern, in Deutschland geschuftet. Nun erfüllt er sich endlich seinen geheimen Traum: eine Eigentumswohnung in Istanbul. Doch am Tag des Einzugs stirbt er dort an einem Herzinfarkt. Zur Beerdigung muss völlig überstürzt und schockiert seine Familie aus Deutschland anreisen.
Fatma Aydemirs großer Gesellschaftsroman besticht besonders durch seinen Aufbau. Er besteht aus sechs großen Kapiteln, in deren Fokus jeweils eins der sechs Familienmitglieder steht. Die sind eigentlich grundverschiedene Menschen, aber alle sechs haben sie ihr eigenes Gepäck: Geheimnisse, Wünsche, Wunden. Und alle haben sie zu kämpfen mit den großen Fragen von Herkunft, Zugehörigkeit und Zukunft. Wie verwoben die Schicksale miteinander sind, offenbart sich am Ende in kargen Worten, die den Leser doch mitten ins Herz treffen.

Was die Personen von Anfang an vereint, ist das Gefühl, dass sie in Hüseyins Wohnung beobachtet werden. Etwa von Dschinns? Von Dämonen, die den Menschen Angst einjagen, denn sie stehen für das Dunkle, Ungewisse, Nicht-Greifbare. Irritierend für den Leser wirkt die „du-Form“ im ersten und letzten Kapitel über den Familienvater und die Mutter. Sind es etwa die Dämonen, die diese beiden Personen ansprechen? Voller Wucht ergründet „Dschinns“ das Gebilde dieser türkischen oder eher kurdischen oder doch schon deutschen Familie.

Die Autorin Fatma Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren. Sie lebt in Berlin und ist Redakteurin bei der taz. 2017 erschien ihr Debütroman „Ellbogen“, für den sie zwei Preise erhielt. Ihr zweiter Roman „Dschinns“ wurde mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichnet und ist eines von den sechs Büchern auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2022.

„Dschinns“ (Hanser 2022) ist im örtlichen Buchhandel erhältlich oder in der Stadtbibliothek Engen ausleihbar.

„Aufbrechen“ von Tsitsi Dangarembga

Lesetipp September 2022:

Die Autorin aus Simbabwe erhielt im Oktober 2021 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für ihre Arbeit als Filmemacherin und Schriftstellerin. Dangarembga lebt heute mit ihrem deutschen Mann in Berlin und in Harare. In ihrem Heimatland war sie erst kürzlich angeklagt, denn sie hatte zu einer Anti-Korruptions-Demonstration aufgerufen.

Außerdem kämpft sie mit friedlichen Mitteln für Frauen- und Freiheitsrechte und für politische Veränderungen in Simbabwe. Sie setzt sich intensiv für die Förderung Filmschaffender afrikanischer Frauen ein.

Ihr Roman „Aufbrechen“ schildert den harten Kampf des Mädchens Tambu um höhere Bildung und wie sie sich allmählich aus dem Stammes- und Dorfleben löst. Allerdings zum Preis der Entfremdung von ihren Wurzeln.

Der Roman ist das Porträt einer afrikanischen Gesellschaft, die von Kolonialismus geprägt und vom Patriarchat dominiert ist, in der jedoch die jüngeren Frauen für Selbstbestimmung kämpfen. Dieser Weg geht nur über Bildung.

Es gibt kaum ein Buch, das so einen guten Einblick in Kultur und Denkweisen des ostafrikanischen Landes Simbabwe (früher Rhodesien) gibt. Das Land wurde fast 40 Jahre lang von dem Diktator Mugabe beherrscht und gnadenlos ausgebeutet. Die Lebensumstände sind auch heute noch äußerst schwierig.

Die BBC hat „Aufbrechen“ in die Liste der 100 wichtigsten Bücher aufgenommen, die die Welt geprägt haben. Das Buch ist ausleihbar in der Stadtbibliothek Engen.