„Die Verräter“

Lesetipp Herbst 2023: „Die Verräter“ von Artur Weigandt

„Die Heimat ist nicht mehr als eine Erinnerung“ schreibt Weigandt in seinem „journalistischen Heimatroman“ über seine eigene Herkunft. Geboren wurde der junge Autor 1994 als Nachkomme von Wolgadeutschen in Uspenka, einem kleinen Plandorf in der Steppe Kasachstans. Gegründet war dieses Dorf schon im Jahr 1911 von ukrainischen Deportierten. Der letzte Zar hatte ukrainische Bauern, Beamte, Handwerker all ihrer Besitztümer beraubt und sie in die unwirtliche Steppe von Kasachstan verfrachtet. Danach die blutige russische Revolution. Das Leben in Uspenka steht beispielhaft für das Leben in der UdSSR. Heute oft verklärt, drohten doch für nicht wenige Willkür, Repressionen, Verhaftung und Deportation.

Mit dem Zerfall der Sowjetunion verwaiste Uspenka. Viele Menschen zogen weg und begannen ein Leben in der Fremde. Wurden sie dadurch zu „Verrätern“ ihrer Heimat? Doch in ihrer Erinnerung lebt das Dorf weiter. Artur Weigandt spricht mit diesen Menschen und ergründet die Spuren, die Flucht und Vertreibung in seiner eigenen Familie hinterlassen haben. Am Ende muss er erkennen, dass der russische Angriff auf die Ukraine seine eigene Identität infrage stellt. Besonders schmerzt ihn, dass Teile seiner Familie, die in Russland geblieben sind, Berichte über die Schrecken des Krieges in der Ukraine als Fake-News, als reine Erfindungen abtun.

Der junge Autor überschreibt sein informatives und doch sehr berührendes Buch „Für die Heimatlosen“.  Hanser Verlag 2023

„Ein Haus für viele Sommer“

Lesetipp Januar 2023: „Ein Haus für viele Sommer“ von Axel Hacke

Der Schriftsteller und Kolumnist des Magazins der Süddeutschen Zeitung hat seinem Lesepublikum ein wunderschönes Buch beschert, das große Lust aufs Reisen macht. Schon in den ersten Zeilen entführt er uns in den Süden, in eine Cantina, wo die Vespa geparkt und der Wein gelagert wird, kurz: in ein Dorf auf der italienischen Insel Elba. Dort hat die Familie des Erzählers vor vielen Jahren einen uralten Torre (Wohnturm) geerbt, sehr malerisch, aber mit andauernder Renovierungsarbeit verbunden. Schreibt der Autor von seiner eigenen Familie? „Axel, ciao, come stai?“ Axel, wie geht’s, ruft ihm ein Nachbar in höchster Freude entgegen. Doch Vorsicht: In seinen Nachbemerkungen ernüchtert Axel Hacke die Leser. Die meisten der Geschichten in diesem Buch hätten so, wie sie erzählt werden, nicht stattgefunden. Auch die meisten Menschen im Buch seien erfunden, doch er habe Vorbilder gehabt, die ihm gute Nachbarn und Freunde geworden seien. In dem Dorf Capoliveri auf Elba scheint die Zeit langsamer zu vergehen, zumindest in den langen Sommern, die der Erzähler seit Jahrzehnten dort verbringt. Er schildert die kleinen Begebenheiten in den Gassen, auf der Piazza, am Strand und auf den Hügeln. Dabei zieht der Duft der südländischen Pflanzen, des Weins und des Olivenöls in unsere Nase und uns läuft das Wasser im Mund zusammen, wenn wir von spaghetti con aglio, olio e peperoncino lesen. Wir hören mal von kunstsinnigen, mal von schrulligen, gar grantigen, aber doch immer liebenswerten Inselbewohnern. Wir begegnen Lorenzo, dem Schreiner, der vom Bett aus ein Wildschwein erlegen konnte, und lernen den alten Ennio, den besten Mechaniker für jeden Cinquecento kennen, der sich trotz Leibesfülle und zwei Meter Körpergröße in seinen quietschgelben Fiat quetscht. Steht die Zeit auf der Insel still? Sicher nicht, deshalb ist es vielleicht besser, sich auf eine literarische Reise einzulassen. Und doch bekommt man bei der Lektüre große Lust, Elba zu besuchen – doch vermutlich ist man nur einer von tausenden Touristen, die doch nur Fremde auf der Insel bleiben.

Der Literaturkritiker Uwe Wittstock urteilt: „Vielleicht ist Axel Hacke einer der wenigen echten Volksschriftsteller, die unsere Literatur zurzeit hat. Seine Bücher werden nicht nur gelesen, sondern heftig geliebt.“
„Ein Haus für viele Sommer“, erschienen im Kunstmann Verlag 2022, ist ausleihbar in der Stadtbibliothek Engen oder zu kaufen in der Buchhandlung am Markt. Bei Goldmann auch als Taschenbuch erhältlich (12 €).

Ihr glücklichen Augen

Lesetipp Mai 2023 „Ihr glücklichen Augen“ von Elke Heidenreich

Wer diese „kurzen Geschichten zu weiten Reisen“ liest, möchte am liebsten gleich losreisen zu den Orten, von denen die bekannte Kölner Autorin Elke Heidenreich erzählt: Danzig und Kairo, Shanghai und Oslo, Nagasaki und viele Orte mehr. Über Jahrzehnte hat sie Reiseeindrücke gesammelt und daraus eine Art Reiseführer verfasst, informativ, kritisch, berührend und manchmal auch lustig.

Elke Heidenreich, studierte Theaterwissenschaftlerin, ist in ihrem Leben viel gereist, teils beruflich für Opernproduktionen (Wagner in Shanghai!) oder als Autorin für Lesungen im Goethe-Institut. Aber sie reist auch privat und dann nicht so sehr als Touristin, sondern eher „einfach nur so, ohne große Erwartungen. Ins Unbekannte.“ So entstehen Geschichten von wunderbaren Entdeckungsreisen voller Überraschungen.

Da ihre große Liebe der Oper gilt, besucht sie wenn immer möglich, Opernhäuser und beschreibt die Atmosphäre so eindringlich, dass man als Leser das Gefühl hat, jetzt muss man sofort den Koffer packen und das Theater mit eigenen Augen erleben. Dann erfährt man, dass das Teatro Massimo von Palermo, das größte Opernhaus in Italien, von 1974 an 20 Jahre geschlossen war, weil mafiöse Strukturen die Sanierung hinauszögerten. Jahrelang kämpfte ein mutiger Bürgermeister für die Wiedereröffnung, ebenso wie er sich für die Rettung von Bootflüchtlingen einsetzte, ganz gegen die Linie der Regierung (und der Mafia!).

Doch man kann mit der Autorin auch riesige Albatrosse und putzige Gelbaugenpinguine in Neuseeland erleben oder den Markt von Marrakesch und das Haus von Yves Saint-Laurent und den traumhaften Park Jardin Majorelle, der den Modeschöpfer so sehr inspiriert hatte.

Auf Clare Island vor der Westküste Irlands (heute 162 menschliche Bewohner, 3000 Schafe) folgt sie den Spuren von Grace O’Malley, Piratin der Königin Elizabeth I.

Doch gleich zu Beginn des Buches nimmt Heidenreich die Leser*innen mit in die „Frauenbadi“, eröffnet 1837 (!) in der Limmat in Zürich, jetzt ein denkmalgeschütztes Jugendstilbauwerk. Noch heute kann man, nein frau dort ganz ungestört von männlichen Blicken schwimmen und eisgekühlte Drinks an der Bar schlürfen.

Erschrecken auf einer Lesereise im ziemlich zerstörten Beirut, früher dem „Paris des Nahen Ostens“: „Oh, wie schön, ihr seid Deutsche… Kommt herein, mein Haus ist euer Haus, Hitler war ein guter Mann!“ Doch nicht alle denken so. Als Schulkinder bei einer Lesung mit Heidenreich auf Französisch diskutieren, erfährt sie vom hohen Bildungsniveau der Libanesen trotz Bürgerkrieg, Chaos und Korruption.

So fasziniert jeder Text die Leser aufs Neue und weckt Fernweh mit diesen so unterhaltsamen Reisegeschichten einer Autorin, die immer neugierig auf Begegnungen mit fremden Menschen an fremden Orten ist.

Elke Heidenreich: „Ihr glücklichen Augen – Kurze Geschichten zu weiten Reisen“, Hanser Verlag 2022 – ausleihbar in der Stadtbibliothek Engen