Lesetipp Mai 2024: Dinçer Güçyeter: „Unser Deutschlandmärchen“
Bei der kommenden Fußball-Europameisterschaft hoffen viele Deutsche auf ein neuerliches „Deutschlandmärchen“ wie im Jahr 2006 bei der Weltmeisterschaft. Was aber, wenn der Buchtitel eines türkisch-stämmigen Autors unser Deutschlandmärchen heißt? Der Preisträger des Leipziger Buchpreises 2023 erzählt eine, seine (?) Familiengeschichte, besonders aus der Sicht der Frauen mehrerer nach Deutschland ausgewanderter Generationen und des Sohnes, der in Almanya geboren wurde. Und diese Geschichte verläuft alles andere als märchenhaft. Güçyeter erzählt vom Schicksal türkischer Griechen zu Anfang des 20. Jahrhunderts, von archaischer Verwurzelung in anatolischem Leben und von den großen Herausforderungen der Mutter, als Gastarbeiterin in Deutschland ein neues Leben zu beginnen. Erschütternd wirkt der bittere Satz von Fatma: „Wenn deine Wurzeln nicht derselben Erde angehören, bist du verdammt.“ Und im Epilog sagt sie: „Wir haben blind danach gestrebt, den Schmerz der Entwurzelung mit Eigentum, mit Geld zu heilen, vergebens.“ Perspektiven und die poetische Erzählweise der kurzen Kapitel sind einzigartig und fallen aus dem Rahmen eines „normalen“ Romans. Bebildert ist das Buch mit einigen berührenden privaten Schwarz-Weiß-Fotografien.
Heute ist der 1979 in Nettetal nahe der niederländischen Grenze geborene Autor ein engagierter Theatermacher, Lyriker, Herausgeber und Verleger. Als junger Mann einer türkischen Gastarbeiterfamilie machte er den Realschulabschluss an der Abendschule und absolvierte die Ausbildung zum Werkzeugmacher. Seinen Elif-Verlag, gegründet 2012, finanzierte er als Gabelstaplerfahrer in Teilzeit. Im Jahr 2022 wurde Güçyeter mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet und 2023 erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse für „Unser Deutschlandmärchen“. Nach all den überschwänglichen Kritiken wird das Buch ab November 2024 auch als Theaterstück zu sehen sein.
Dinçer Güçyeter, „Unser Deutschlandmärchen“, 2022 erschienen im Verlag mikrotext, ausleihbar in der Stadtbibliothek Engen