Thomas Hettche, „Herzfaden“

Thomas Hettche: „Herzfaden“ – Roman der Augsburger Puppenkiste (KiWi Sept. 2020) – unser Tipp im November 2020

Wer kennt nicht die legendäre Augsburger Puppenkiste? Generationen von Kindern sind mit Lukas dem Lokomotivführer aufgewachsen, seit „Jim Knopf“ als erste deutsche Fernsehserie 1961 ausgestrahlt wurde. „Herzfaden“, dieses vor kurzem erschienene Buch des Bestsellerautors Thomas Hettche erzählt von der Entstehung des Augsburger Marionettentheaters und von den ersten 30 Jahren.

Wenn man das Buch aufschlägt, fallen die 27 zarten Zeichnungen und die roten und die schwarz bedruckten Seiten auf. Auf den roten Seiten liest man eine Rahmenhandlung, die in der Jetzt-Zeit spielt, aber in der Vergangenheit geschrieben ist. Ein zwölfjähriges Mädchen floh nach einer Vorstellung in der „Puppenkiste“ auf einen Dachboden, so wütend war sie, dass ihr Vater sie in ein Puppentheater geschleppt hatte. Damit geriet das Mädchen in eine Phantasiewelt und begegnete nicht nur all den berühmten Marionetten, sondern Hatü, der Tochter von Walter Oehmichen, des Gründers der Augsburger Puppenkiste.
Hatü war die Meisterschnitzerin der Figuren und erzählt nun ihre Geschichte. Die ist in schwarzen Lettern abgedruckt und, obwohl bis ins Jahr 1939 zurückreichend, im Präsens erzählt.  So entsteht eine wunderbare Verwobenheit der Fäden der verschiedenen Handlungsebenen.

Warum verlegt sich Hatüs Vater, ein Schauspieler und Intendant, aufs Puppentheater und wie kann man damit schon während des Krieges und erst recht danach so berühmt werden? Das sagt viel über die frühe bundesrepublikanische Zeit aus. Man wollte Sorgen und natürlich auch Schuldgefühle hinter sich lassen, neu anfangen. Doch wie steht es um einen Neuanfang, wenn die gleichen Personen wie im 3.Reich wieder in den hohen Positionen sitzen? Und endlich fällt Hatü auf, wieso ihr die Kasperfigur, die sie als erste Marionette geschnitzt hat, immer noch solche Angst einjagt.

Das Buch ist voller Fakten, aber doch ein Roman.  Dabei lässt er die Kriegs- und Nachkriegszeit samt Wirtschaftswunder in ganz alltäglichen Dingen aufleben. Bei älteren Leserinnen und Lesern werden sicher viele Erinnerungen wach gerufen, während die jungen mit Spannung und Amüsement von den früheren Zeiten lesen werden.

Das Buch ist geeignet ab 15 Jahren. Es stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2020. Hettches großer Bestseller für historisch Interessierte ist „Pfaueninsel“ (2014).