Natascha Wodin: „Nastjas Tränen“

Lesetipp Febr. 2022 „Nastjas Tränen“ von Natascha Wodin

Was, eine ukrainische Putzfrau ist Hauptfigur eines Romans? Kann das eine entspannende Lektüre sein? Entspannend sicher nicht, dafür umso berührender und aufrührender, manchmal skurril und gar zum Lachen. Und wir erfahren durch eine ganz persönliche Geschichte, warum das Verhältnis zwischen Deutschland und der Ukraine nicht einfach ist, auch wenn hier in Deutschland mehr Menschen aus der Ukraine leben als gedacht.

Im Berlin der frühen 90er Jahre, bald nach dem Ende der Sowjetunion, ergattert Nastja aus Kiew eine Putzstelle bei Natascha Wodin, der Autorin, die in diesem Buch Romanhaftes mit eigener Geschichte und eigenem Erleben verbindet.

Die hochgebildete Nastja, etwa 50, aber immer noch bildhübsch, war in ihrer Heimat Kiew Tiefbauingenieurin gewesen, aber dann, nachdem sich die Ukraine als selbstständiger Staat etabliert hatte, verlor sie im heillosen Chaos der Wendezeit ihre Arbeit, war völlig mittellos und musste wie ihre ganze Familie hungern. Bald sah sie keinen anderen Ausweg, als ihr Überleben und das ihres Enkels durch Arbeit im Westen zu sichern. So landete die Ingenieurin als Putzfrau in Berlin. Bald bekam sie einen Minijob bei der Autorin Natascha Wodin. Die war bei der ersten Begegnung so berührt vom Klang der Sprache der Ukrainerin, denn sie wurde an ihre eigene ukrainische Mutter erinnert.

Wodins Eltern waren während des Krieges als blutjunge Zwangsarbeiter nach Deutschland gekommen. 1945 kam Wodin in Bayern zur Welt. Ihre Mutter jedoch war so traumatisiert, dass sie sich wenige Jahre später das Leben nahm. Deshalb wuchs die Autorin in einer bayrischen Klosterschule auf, durch und durch deutsch und katholisch, doch die Ukrainerin Nastja rührte an ihr Herz und brachte lang Vergessenes wieder ans Licht.

Problematisch wurde die Lage für Nastja, als sie zu spät bemerkte, dass ihr Touristenvisum abgelaufen war. Von da an führte sie in Berlin das Leben einer Illegalen. Sie tauchte unter, mied U-Bahn-Fahrten aus Angst vor Kontrollen und lebte wie ein Schatten. Ihre Ehe mit dem Motorrad-Fan Achim half ihr nur wenig, denn bald entdeckte Nastja die dunkelsten Seiten von Achim. Doch sie ließ sich nicht unterkriegen, auch wenn sie durch absurde, aber glaubwürdige Wendungen zur Fremden in ihrem eigenen Heimatland Ukraine wurde.

Natascha Wodin gelang wieder ein Roman, der den Lesern die Themen Heimatlosigkeit und gebrochene Biographien anschaulich und packend näher bringt.

Wodin schrieb mehrere ausgezeichnete Bücher. Ihr bekanntestes ist die Geschichte ihrer Mutter „Sie kam aus Mariupol“. Dafür bekam die Autorin den Preis der Leipziger Buchmesse, den Alfred-Döblin-Preis und den Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil 2019 verliehen.

Zum Thema Ukraine sei auch „Schwarze Erde – Eine Reise durch die Ukraine“ von Jens Mühling empfohlen (Lesetipp vom Okt. 2020).